Berlin, Düsseldorf Die Rechtslage ist eindeutig: Ende des Jahres läuft die Betriebsgenehmigung für die letzten drei Atomkraftwerke (AKW) aus, die in Deutschland noch am Netz sind. Eine Verlängerung wäre mit hohen Hürden verbunden. Unmöglich wäre sie allerdings nicht.
Lassen sich die drei verbliebenen AKW in Deutschland über den 31. Dezember 2022 hinaus mit den vorhandenen Brennstäben betreiben?
Grundsätzlich ist das möglich. Dazu müssten die Anlagen im Streckbetrieb gefahren werden. Das würde bedeuten, dass sie nicht mehr mit voller Leistung betrieben würden. Sie würden dann etwa im Sommer und Herbst 2022 weniger Strom produzieren, die Brennelemente würden somit langsamer „abgebrannt“.
Im Gegenzug könnten sie über den 31. Dezember 2022 hinaus im ersten Quartal 2023 noch Strom produzieren. Der Verband Kerntechnik Deutschland (KernD) verweist darauf, in einem AKW in Deutschland sei im Jahr 2010 eine „konstant reduzierte Fahrweise im Bereich von 30 Prozent der Nennleistung realisiert“ worden.
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Das Bundeswirtschafts- (BMWK) und das Bundesumweltministerium (BMU) sehen den Streckbetrieb skeptisch. In einem gemeinsamen Vermerk der beiden Ministerien von Anfang März heißt es, ein Streckbetrieb führe nur zu einer Verlagerung der Stromproduktion, nicht aber zu zusätzlichen Strommengen.
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Ein Mehrwert läge allerdings darin, dass im kommenden Winter zusätzliche Leistung im System wäre, um zur Versorgungssicherheit bei Stromnachfragespitzen beizutragen. Dieser Effekt lasse sich aber auch mit dem Einsatz von Kohlekraftwerken aus Reserven erzielen.
Aus welchen Ländern stammen die aktuell eingesetzten Brennstäbe?
Nach Branchenangaben stammen die Brennelemente der Kernkraftwerke in Deutschland traditionell von Lieferanten, die Werke in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Schweden betreiben. „Das enthaltene Uran und die erforderlichen Dienstleistungen zu dessen Aufbereitung wurden in einem internationalen Markt beschafft, auch unter Einbeziehung von Russland“, heißt es bei KernD.
Die Einbeziehung Russlands sei aber nicht erforderlich, da das Uran auch anderweitig beschafft werden könne, auch die Dienstleistungen zur Aufbereitung des Urans, etwa die Anreicherung, können laut KernD in Westeuropa erbracht werden.
Welcher Vorlauf ist erforderlich, um neue Brennstäbe zu beschaffen?
Die Bundesregierung geht von zwölf bis 18 Monaten aus. Wenn es sehr dringlich ist, kann die Lieferung aber wohl deutlich schneller erfolgen. Der US-Hersteller Westinghouse, der zu den etablierten Lieferanten auch deutscher Atomkraftwerksbetreiber zählt, bekam nach eigenen Angaben kurz nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine eine Anfrage der Bundesregierung, ob man kurzfristig Brennstäbe liefern könne, um die Laufzeiten der drei AKW zu verlängern. So berichtet es das Onlinemedium „The Pioneer“.
Die Firma habe das bejaht und gesagt, sie sei auch heute noch dazu in der Lage, bis zum Jahresende Brennstäbe zu liefern. Die Bundesregierung hat das Thema allerdings nicht weiter verfolgt. „Das Zeitfenster schließt sich nun schnell, eine Anfrage müsste rasch erfolgen“, schreibt Westinghouse. Das BMWK und das BMU waren im März zu dem Ergebnis gekommen, selbst bei sofortiger Bestellung und beschleunigter Abwicklung sei mit einer Nutzung neuer Brennstäbe „nicht vor Herbst 2023 zu rechnen“.
Bedürfte es für einen Weiterbetrieb über den 31. Dezember 2022 hinaus einer Gesetzesänderung?
Ein Weiterbetrieb der drei noch laufenden Atomkraftwerke wäre zwingend mit einer Änderung des Atomgesetzes verbunden, in der die kalendarische Befristung entfallen und eine Zuteilung neuer Strommengen erfolgen müsste.
Es handelt sich hier um die Fortführung eines aktuell genehmigten und überwachten Betriebs, sodass die Anforderungen nicht so hoch wären wie bei der Neugenehmigung des Betriebs eines Kraftwerks, das bereits vom Netz gegangen ist. Dennoch wären die Hürden hoch.
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Für die drei AKW, die Ende vergangenen Jahres abgeschaltet wurden, gilt: Ihre Berechtigung zum Leistungsbetrieb ist erloschen. Ein Betrieb könnte nur aufgrund einer gesetzlichen Aufhebung des Erlöschens und einer gesetzlichen Laufzeitverlängerung erfolgen. Damit liegt die Latte für eine Wiederaufnahme des Betriebs sehr hoch.
Ist über den 31. Dezember 2022 hinaus qualifiziertes Personal in ausreichender Stärke verfügbar?
Das BMWK und das BMU sind in dieser Hinsicht pessimistisch. „Die für einen zeitnahen Weiterbetrieb notwendigen Personalressourcen sind nicht mehr vorhanden und müssten erst wieder aufgebaut werden“, schreiben die Ministerien in einer gemeinsamen Bewertung. Das gelte nicht nur für die Kraftwerke selbst, sondern auch für die Aufsichtsbehörden und für Sachverständige.
Die Branche hält das allerdings für machbar: „Qualifiziertes Personal ließe sich grundsätzlich bereitstellen, da die Anlagen ja auch nach ihrer Abschaltung im Nachbetrieb zunächst allen Sicherheitsanforderungen wie zu Betriebszeiten genügen müssen“, heißt es bei KernD.
Wie wichtig sind die drei Kernkraftwerke für die Stromversorgung?
Die installierte Leistung der drei Anlagen beträgt 4,3 Gigawatt (GW). Die Anlagen laufen – von kleinen revisionsbedingten Pausen abgesehen – quasi von Januar bis Dezember rund um die Uhr. Sie stehen für rund sechs Prozent des Stromverbrauchs in Deutschland.
Außerdem zählen sie – wie etwa auch Kohlekraftwerke – zur gesicherten Leistung, weil sie im Gegensatz zu Windrädern und Photovoltaikanlagen kalkulierbar zur Verfügung stehen.
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Quelle: Handelsblatt