EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat mit Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni das Erstaufnahmelager für Migranten auf Lampedusa besucht. Die beiden Politikerinnen kamen am Sonntagvormittag mit dem Flugzeug auf der kleinen italienischen Mittelmeerinsel an.
Von der Leyen und Meloni sahen sich in dem sogenannten Hotspot im Landesinnern um, besuchten die Mole am Hafen und tauschten sich mit einigen Migranten aus, wie auf Bildern des Fernsehsenders RaiNews24 zu sehen war.
„Irreguläre Migration ist eine europäische Herausforderung und wir müssen sie europäisch lösen“, sagte von der Leyen am Sonntag. Die EU-Staaten und nicht die Menschenhändler müssten entscheiden, wer in die Union komme. Von der Leyen kündigte ein härteres Vorgehen gegen Schleuser an.
Sie betonte aber auch: „Die wirksamste Maßnahme gegen die Lügen der Schmuggler sind legale Wege und humanitäre Korridore.“ Je besser bei der legalen Migration vorgegangen werde, desto strenger könne man bei irregulärer Migration vorgehen.
Von der Leyen betonte, es brauche auch mehr Rückführungen von Menschen, deren Asylgesuch abgelehnt worden sei. Die EU-Asylagentur soll Italien bei der Registrierung neuer Flüchtlinge helfen – zudem versprach sie Unterstützung dabei, Migranten von der überlasteten Insel Lampedusa zu bringen. Von der Leyen appellierte auch an die anderen EU-Staaten, freiwillig Migranten aus Italien aufzunehmen.
Auch die Überwachung auf See und aus der Luft soll nach Aussage der EU-Kommissionspräsidentin verstärkt werden. „Wir können dies über Frontex tun“, sagte sie mit Blick auf die EU-Grenzschutzagentur am Sonntag im Beisein der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni. Von der Leyen fügte hinzu, sie unterstütze es, Optionen zur Ausweitung bestehender Marineeinsätze im Mittelmeer auszuloten oder an neuen Einsätzen zu arbeiten.
„Wir geben unser Bestes“, zitierte die Nachrichtenagentur Ansa Meloni. Die Migranten müssten aber schon an der Überfahrt nach Europa gehindert werden. Über die Umverteilung der Menschen auf die Mitgliedstaaten zu reden, löse das Problem nicht.
Bereits zuvor hatte die italienische Ministerpräsidentin eine europäischen Mission gefordert, um Migrantenboote auf dem Weg nach Europa zu stoppen. Wenn nötig müsse die Marine eingesetzt werden, sagte die Rechtspolitikerin in einer Videobotschaft am Freitagabend. Nach Melonis Vorstellung sollen die Menschen bereits in Nordafrika vom Ablegen abgehalten werden. Eine solche Mission müsse „sofort“ starten.
Seit Montag haben mehrere Tausend Bootsmigranten die kleine Insel zwischen Sizilien und Nordafrika erreicht. Allein am Dienstag kamen mehr als 5000 Menschen an – so viele wie noch nie an einem einzigen Tag. Zeitweise war das Erstaufnahmelager mit rund 6800 Menschen maßlos überfüllt.
Wegen der Nähe zur tunesischen Küstenstadt Sfax gehört Lampedusa seit Jahren zu den Brennpunkten der Migration nach Europa. Der Stadtrat der Insel rief am Mittwoch angesichts der angespannten Lage den Notstand aus.
Meloni lud von der Leyen nach Lampedusa ein, „um sich persönlich den Ernst der Lage, in der wir uns befinden, bewusst zu machen“. Die Kommissionschefin war am Samstag zunächst nach Rom gereist und von dort aus am Sonntag mit Meloni weiter nach Lampedusa geflogen.
Meloni sieht die EU in der Pflicht, Italien zu unterstützen. Sie habe deswegen den Präsidenten des Europäischen Rats, Charles Michel, gebeten, das Migrationsthema auf die Tagesordnung des EU-Gipfels im Oktober zu setzen.
Tunesien ist eines der wichtigsten Transitländer
Die Regierungschefin betonte die Wichtigkeit des geplanten Abkommens mit Tunesien. Erst vor zwei Monaten waren sie und von der Leyen gemeinsam zu Verhandlungen nach Tunesien gereist. Die vereinbarten finanziellen Mittel müssen nach ihren Worten schnellstmöglich übertragen werden, um den Deal zu beschleunigen.
Tunesien ist eines der wichtigsten Transitländer für Migranten auf dem Weg nach Europa. Die EU-Kommission plant derzeit ein Migrationsabkommen mit dem nordafrikanischen Land. Im Gegenzug für millionenschwere Finanzhilfen soll Tunesien künftig stärker gegen Schlepper und illegale Überfahrten vorgehen, um dort die Abfahrten von Menschen in Richtung Europa zu reduzieren.
Meloni sagte, das Mittelmeerland und Europa könnten die enorme Zahl an Menschen nicht aufnehmen. „Der Migrationsdruck, den Italien seit Anfang dieses Jahres erlebt, ist unhaltbar“, sagte die Rechtspolitikerin. Sie beabsichtige, „außergewöhnliche Maßnahmen“ zu ergreifen.
So solle das Höchstmaß der Haftdauer in Abschiebungshaftanstalten angehoben werden. Meloni kündigte an, die Maßnahmen sollten am Montag in einer Kabinettssitzung beschlossen werden.
Zahl der Migranten zum Vorjahr fast verdoppelt
Italien wird seit Oktober 2022 von einer Rechtsallianz regiert. Die ultrarechte Meloni versprach, die Migration einzuschränken. Bislang konnte sie das Wahlversprechen nicht erfüllen. Seit Jahresbeginn kamen laut Zahlen des Innenministeriums in Rom mehr Migranten als im gesamten Jahr 2022 über das Meer nach Italien. Bis zum 15. September waren es rund 127.200 Menschen (Stand 15. September) – im Vorjahreszeitraum rund 66.200.
Angesichts der Lage auf Lampedusa beriet sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser mit ihrem französischen Amtskollegen Gérald Darmanin. Weitere Gespräche mit EU-Amtskollegen und der Kommission sollten folgen, hieß es am Samstag aus dem Bundesinnenministerium. Deutschland hält daran fest, vorerst keine weiteren Migranten aus Italien über den freiwilligen Solidaritätsmechanismus aufzunehmen.
Derzeit würden keine Interviews zur Vorbereitung von weiteren Übernahmen aus Italien stattfinden, sagte ein Sprecher. Es gebe noch einige Migranten, die das Verfahren bereits durchlaufen hätten und übernommen würden. Die Interviews zur Vorbereitung von Übernahmen könnten „jederzeit wieder aufgenommen“ werden.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bekräftigte in einem Telefonat mit Meloni Frankreichs Solidarität mit Italien angesichts der Lage auf Lampedusa. Wie der Élyséepalast mitteilte, hätten beide die Notwendigkeit einer humanitären Herangehensweise und einer verstärkten Zusammenarbeit auf EU-Ebene betont. Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin werde in den nächsten Tagen zu Beratungen nach Italien reisen.
Italiens Küstenwache findet totes Neugeborenes auf Migrantenboot
Die italienische Küstenwache hat auf einem Migrantenboot vor der Küste Lampedusas ein totes Neugeborenes entdeckt. Das Boot sei auf die Insel zugesteuert, meldete die italienische Nachrichtenagentur Ansa am Samstag. Bei dem Rettungseinsatz sei das tote Baby gefunden worden. Es sei während der Fahrt über das Mittelmeer zur Welt gekommen und kurz nach der Geburt gestorben.
In dieser Woche war bereits ein fünf Monate alter Junge während einer Rettungsaktion vor Lampedusa ertrunken, nachdem ein aus Nordafrika kommendes Boot mit Migranten an Bord gekentert war.
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Quelle: Handelsblatt